Weinnase in Brasilien 2008

XXXXI. Einsichten und Übersichten

16.11.2008

Bom Dia!

Ich, d.h. wir -meine Frau Brigitte und ich- leben nun seit Monaten in einem weiten Land, einem Bundesland der Republik Brasilien. Das südlichste und zugleich das "europäischste" Land. Dem Land der Gauchos, in Rio Grande do Sul. Und zwar in dem Teil des Landes, daß den Namen Pampa (=Grasland) zu Recht trägt. Hügelige Ausläufer der Serra Gaucha schließen das Land gegen Nord-Osten, zum Atlantik hin, ab. Von dort aus kommen auch zahlreiche kleinere und größere Bäche und Flüsse durchs Land der "Roten Erde", der "terraroxa" und begründen dadurch die Fruchtbarkeit auf einer schier unglaublichen Weite (die Größe der BRD). Viele der Wasserläufe münden in die größte Süßwasser-Lagune der Welt, der Lagoa dos Patos, der Enten-Lagune mit mehreren 100 km Ausdehnung. Vor dem Atlantik durch eine baumlose Dünenlandschaft mit sandigen Stränden geschützt.
Nur sehr wenige Städte sind als solche, nach europäischer Sichtweise, auch so zu benennen. U.a. die Landeshauptstadt Porto Alegre, dem "Fröhlichen Hafen" am nördlichen Teil der Lagune, aber ohne eigenen Zugang zum Atlantik. Dieser liegt bei der alten Kolonial- und Hafenstadt, ca. 300 km weiter südlich, Richtung Uruguay: Rio Grande ist diese bedeutende Industrie- und Hafenstadt, die nun in Bälde einen riesigen Entwicklungssprung machen wird. Der Hafenkomplex wird mit rieseigen finanziellen Fördermitteln des Landes und Staates Brasilien zu einem modernen Fracht- und Produktions-Center ausgebaut werden.

Abseits der kleinen Städtchen und weitläufigen Dörfer, wie Morro Redondo, das uns z.Zt. in einem alten, kleinen Farmhaus - bei einer deutschstämmigen Familie - Unterkunft bietet, ist die hier noch hügelige Pampa. Weiter, nord-westlicher von hier kommt dann das weite, flache Grasland. Bis hin zur Grenze Argentiniens (und Paraguay) und Uruguay. Hier sind die Weidegründe der millionenfachen, halbwild lebenden Rinderherden. Hier sind die Fazendas von ungeheurer Größe von mitunter 300-800 ha. keine Seltenheit. Und hier ist auch die ursprüngliche Heimat der karg lebenden Viehhirten, den Gauchos gewesen.
Am Rande, in Richtung der Kreis- und Hafenstadt Pelotas, am Lagoa dos Patos, ca. 1 1/2 Std. rumpeliger Busfahrt über staubige Sandpisten leben wir am Passo do Valdez, unterhalb des Dorfes Morro Redondo ("Runder Berg") im bäuerlich strukturierten Teil der Pampa. Hier, wo es seit kurzem sogar -bei Bagé, an der uruguayischen Grenze - respektablen Weinanbau gibt. Obst- und viele Landwirtschaftliche Produkte (Milch!) prägen die wirtschaftlichen Verhältnisse. Rings um die wenigen Städte ist nur Industrie ansässig.

Wer hier lebt und reist, wie wir, der muß viel Zeit und Geduld und gutes "Sitzfleisch" mitbringen. Die recht weiten Strecken zwischen Dörfern und Städtchen werden, meist über Holper-Sandpisten, per Bus in langen Touren zurückgelegt. Wir leben hier im Abseits der grünen Hügel und malerischen Täler und dichten Forsten. 12 Std. bergan liegt das Dorf, das nur wenig Abwechslung bietet. Im Grunde nur 1 Hotel und ein paar Mini-Geschäfte für die Grundversorgung.
Hier ist wie's im "Wilden Westen" die USA wohl einmal war: staubige Leere und Langeweile. Und gelegentlich fährt der Bus in die Weite, von der Kirche mit seinem "seltsamen" Friedhof, ab. Rumpelnd hinterlässt er eine Staubwolke und ein paar, müde in die kleinen bunten Häuschen der Hauptstraße eilende, maulfaule Bewohner. Erst nach 1 1/2 Std. Bustour kann man sich in Pelotas etwas an "städtischem Flair" ansehen und einkaufen und mehr an Menschen sehen.
Die einst prachtvolle Kolonialzeit der Stadt ist arg verblasst. Es ist mehr ein hektisch wirkender Verkehrsknotenpunkt und kleine Markt- und Handelsstadt an der Lagune, statt eine freundliche Stadt mit angenehmen, kulturellen Seiten. Hier können wir bei einer einzigen Bank im Centro auch Real -die Umtauschmöglichkeit- bekommen und ein paar Dinge mehr als im Pampa-Dorf in den grünen Bergen. Hier sind auch einige Hotels in trister Art und wenige, ansprechende Restaurants. Sogar ein gelegentlich bespieltes Theater aus der Kaiserzeit ist hier -selten- geöffnet. 2 Museen gibts aber auch, nur von einiger Bedeutung sind die dürftigen Exponate. Die UNI hat sich hier etabliert und zieht jüngere Menschen an. Sonst sieht man überwiegend ältere Menschen in dem sterilen Stadtzentrum. Voll mit billigen Kramläden und Geschäften ists hier nur kurze Zeit am Tage. Dann ist hier große Leere und gähnende Langweiligkeit: Weit und Breit!

Dies ist, kurzbeschrieben, uns als bleibender Eindruck geblieben. Wegen unserer dürftigen Sprachkenntnisse in "singendem" brasilianisch, sind wir mit sozialen Kontakten "auf der Strecke" geblieben. Niemand spricht hier englisch oder gar deutsch. Ein paar uralte "deitsche Leit", noch einiger Worte -pomeranisch oder hunsrückisch- "an germanischer" Sprache mächtig. Und dies wars auch schon, obwohl es überall von deutschen Namen, auf Schildern, Werbungen und an den Straßen und Geschäften nur so wimmelt.
Nur gesprochen oder verstanden wirds nicht mehr: Deutsch ist hier ein fast vergessenes Relikt aus der Kolonistenzeit, der Zeit der Siedler aus vor 150 Jahren. Diese kamen noch in Scharen, aus bitterer Not, um ihre nun hiesige-riesige Neue Heimat und wurden Brasilianer (="Gauchos") vor langer Zeit.

In dieses weite Land kamen wir, um uns umzusehen, ob wir hier auf längere Zeit bleiben und in dieser Einsamkeit leben können! Ob wir uns anpassen können an dies einfache bäuerliche Leben? Ob wir hier von den Menschen als Freunde -als Nachbarn- angenommen würden? Ob wir als "verwöhnte" Städter und Europäer unsere Zufriedenheit erlangen können?
Diese und viele andere Fragen mehr, brachten uns hier "auf Trab". Wir haben uns umgesehen, in einiges hineingesehen. Durften uns Familienleben, Feste sowie Nöte und Sorgen der gastfreundlichen Menschen besehen und miterleben. Und ein andersartiges Leben und Streben, als wir es bislang kannten, miterleben.

Der Sturm draußen läßt die hohen Bambusstämme klappern und der Eukalyptus-Wald rauscht wie Meeresbrandung. Den ganzen gestrigen Tag und heute die überwiegende Zeit hat es geregnet. Die Temperatur ist von 34°C auf 14°C herabgesunken. Kaum, für ein paar Minuten, kamen wir aus dem ungeheizten Farmhaus raus, um nach den Hunden zu sehen. So kann es hier in dem Pampa-Sommer auch gehen: Kälteeinbrüche und ständiger Regen mit stark-böigen Winden!
Diese Zeit muß man, warmgekleidet, im Haus zubringen. Stromausfälle akzeptieren und auf den weiten Weg ins Dorf verzichten. Auf Einkäufe verzichten und sich mit den sorgsam angelegten Vorräten einrichten. Keine guten Wetteraussichten sind für die nächsten Tage abzusehen. Und wir beginnen uns hier in der feucht-kühlen Enge des vom Wind "jammernden" alten Hauese auf die Nerven zu gehen.
Wenn es so im Sommer des Gaucho-Landes aussieht, wie wird erst die Winterzeit auszuhalten sein! Die Menschen hier leben mit dem so bedrohlich auf uns wirkendem Wetter. Sie haben oft genug weggespülte Brücken erneuert und verschüttete Pisten geräumt und sicherlich davon geträumt, sturm- und regensichere Dächer und Häuser zu haben. Die Blitze des letzten Unwetters haben einige Häuser unserer Nachbarn getroffen und die kpl. E-Geräte der Haushalte zerstört. Was hier öfter als ichs mir dachte vorkommt, weil es scheints keinen Blitzableiter und Stromleitungsschutz gibt. Das Tal am Valdez liegt jetzt ungewöhnlich ruhig. Kein Geräusch, als vom Sturm und Regen kommt zu uns in die halbdunkle Küche des alten Farmhauses. Nur ab und an wimmern die Hunde im Scheunen-Schuppen, wie's Welpen halt tun, wen sie sich ängstigen!

Bei dem Mistwetter geh ich auch nicht auf den Hügel um eine evtl. SMS aus der Heimat abzurufen. Und, wer wird uns hier schon im Abseits anrufen oder freundlich kontaktieren wollen. Die beiden "dollen Ollen" sind doch soweit weg und ein Telefonat viel zu teuer. Es ist hier eine nun bedrohlich wirkende Art der Abgeschiedenheit. Etwas wie... "miese Stimmung" macht sich breit und die Zeit wirkt irgendwie, zählen wir die Stunden, "zähfließender".
Das letzte deutsche Buch ist schon längst ausgelesen. TV gibts nicht, und raus können wir nicht, Besuch bekommen wir nicht und wen sollten wir -ohne Sprachkenntnisse- schon besuchen? Ein Café oder Kneipe gibts auch nicht und wir mögen uns momentan keine Geschichten mehr erzählen. Und was soll ich noch aufschreiben, was ich hier in der Pampa NICHT erlebe? Etwas mehr so über die Langeweile? Noch 'ne Ansicht über die Aussicht, hier in Zukunft zu leben?
Halt, etwas sollte ich doch berichten! Besser >berichtigen<. Eines der Hundebabys ist KEIN Rüde. Und nun ratet mal welcher der beiden Geschwister dies wohl ist? Gemerkt habe ichs erst -verdutzt- wie dieses Baby... pisst! So pisst nun mal kein Rüde. Und die Geschlechterbestimmung wurde dann flux nachgeholt und unser Fehler - vor drei Tagen in "SIE" und "ER" korrigiert. Sie macht grade wieder großen Jaule =Spektakel vor der Türe, statt sich im schützenden Schuppen zum Brüderchen -sich gegenseitig wärmend- zu verziehen!

Hier solls also stattfinden: Unser neues Leben in Brasilien. Weitab von dem, was uns in unserer Alten Welt so vertraut und wichtig war. Was uns Ablenkung und "kulturelle Beschäftigung" bot. Stets vorhanden und im Überfluß zu fast jederzeit und unschwer zu erlangen! Bis hin zum Überdruss durch permanentes Überangebot.
Hier bemerken wir den "Verzicht" all dieser Dinge sehr. Kein TV, kein Video, kein Internet, kein Handy-SMS-Kontakt und kein Zeitungen oder (deutsche) Bücher, keine Freunde (selbst die wenigen die wir noch hatten fehlen uns sehr) oder Nachbarn zum "Schwätzchen": Kein sozialer Kontakt hält uns "warm" gepackt!

So schwer, mich anzupassen, habe ich mich selten getan. So viele Bedenken taten mich noch nie einschränken in meinen sonst so optimistischen Planungen. Sind diese so für mich ungewohnten... "Umstände" so etwas wie Warnungen oder Ahnungen, daß das "Brasilien-Konzept" im Gaucho-Land für uns nicht durchführbar ist? Ein zu gewagtes Abenteuer, daß uns mit der Zeit in der Pampa zum Verhängnis werden kann?
Nur noch einen Monat bleibt uns hier in der Weite und Einsamkeit, dann sind wir soweit, uns zu entscheiden zu müssen. Dann erwarten auch unsere verständnisvollen Gastgeber eine klare und zukunftsorientierte, definitive Antwort zu der uns beschäftigenden Frage, hier in Morro Redondo unseren neuen Lebensmittelpunkt zu sehen. Uns wohlfühlen und zufrieden leben zu können!

Die Zeit bis dahin werden wir weiter nutzen, uns umzusehen und -jeder für sich allein- zu prüfen, ob er sich für die "Pampa-Lebensart" entscheiden kann. Denn dann fänge für uns ein gänzlich anderes Leben in Brasilien an.
Noch nie habe ich mich bei einer solchen Entscheidungsfindung so schwer getan, wie diesen Sommer in Brasilien!

CpS


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